Gitta Sereny, 29.08.2001, The Times

Auschwitz sei "kein Vernichtungslager" gewesen?

Eine entsprechende Äußerung taucht unter dem angegebenen Datum tatsächlich zweimal sinngemäß in dem Artikel "Light on the other side of darkness" der Londoner Times auf. Im ersten Fall ist es eine indirekte Wiedergabe der Redakteurin Erica Wagner, im zweiten handelt es sich anscheinend um ein direktes Zitat von Sereny selbst, das die Autorin der Times durch einen Einschub ergänzt hat.

Stellt die Autorin Gitta Sereny auf einmal den Massenmord an den Juden infrage, wie es manche Holocaustleugner andeuten?

Keineswegs. Würde sie dies seit 2001 tun, dann wäre das ein bemerkenswertes Ereignis, über das nicht nur die "Revisionisten", sondern viele Massenmedien berichtet hätten. Wir hätten sicherlich zahlreiche entsetzte Nachfragen an Sereny gesehen, und Sereny selbst hätte in späteren Stellungnahmen begründet, warum sie ihre Ansicht geändert hat.

Nichts dergleichen ist geschehen. Es gab keinen Aufruhr, es gab keine Nachfragen, es gab keine Bekräftigungen von Sereny. Ganz im Gegenteil - Sereny zeigte sich, von dieser einen Ausnahme abgesehen, immer wieder eindeutig und unmissverständlich von der historischen Realität der Massenmorde in den Vernichtungslagern überzeugt.

Zudem sagte sie auch in dem erwähnten Interview:

Dieses ganze Thema der Ermordung der Juden - das dürfen wir nie vergessen, es ist ein Teil der Geschichte, und solange die Welt besteht, müssen die Kinder erfahren, dass dies geschehen ist (...)

Gitta Sereny
The Times, 29.8.2001, S. 11
[eigene Übersetzung]

Da Gitta Sereny durchgängig und sogar in diesem Artikel deutlich macht, dass sie die Ermordung der europäischen Juden als eindeutig bewiesen betrachtet, kann es sich an dieser Stelle nur um ein Missverständnis der Redakteurin oder um eine unglückliche Formulierung Serenys handeln, oder womöglich sogar um beides gleichzeitig.

Zeitungsredakteure sollten ordentlich und gewissenhaft arbeiten und ihre Texte gründlich redigieren. Das ist die Theorie. In den Tageszeitungen kann man jeden Tag feststellen, dass die Praxis anders aussieht. Die Beiträge müssen beispielsweise auf eine bestimmte Länge geschrieben werden, um sich in das vorgegebene Layout einzupassen. Dabei kommt es manchmal zu sinnentstellenden Kürzungen und Ergänzungen.

Wer sich schon einmal über absurde oder offensichtlich falsche Texte in seiner Zeitung geärgert hat, kann das sofort nachvollziehen. Ein allzu hastig gestrichenes "nicht" verkehrt eine Aussage in ihr Gegenteil, und ein einziger fahrlässig gelöschter oder hinzugefügter Buchstabe kann für Verwirrung sorgen.

Es ist denkbar, dass Sereny etwas gesagt hat, das dem gesicherten historischen Wissen entspricht: Auschwitz und Majdanek waren zugleich Konzentrations- und Vernichtungslager. Diesen differenzierenden und durchaus richtigen Gedanken hat sie möglicherweise ungeschickt formuliert, oder ihre Aussagen wurden durch Kürzung und Nachbearbeitung verfälscht.

Eine solche differenzierende Darstellung würde jedenfalls sehr gut zu dem Vortrag passen, den sie noch nicht einmal ein Jahr später in Wien hielt:

[Dachau] wurde nie ein spezifisches "Vernichtungslager", d.h. wie die sechs Einrichtungen in Polen - Chelmno, Belsec, Sobibor, Treblinka, Birkenau bei Auschwitz und ein Teil von Majdanek - die 1941/42 einzig für den Zweck errichtet wurden, Menschen - zumeist Juden und Zigeuner - fabriksmäßig zu töten, und die nach Vollendung dieses "Programms" - ich entschuldige mich für den kalten Ausdruck - und nach dem Tod in diesen fürchterlichen Plätzen von, man schätzt, drei Millionen Menschen abgerissen wurden.

Gitta Sereny
Geben und Nehmen
Vortrag am Ludwig Boltzmann-Institut
für Historische Sozialwissenschaft
Wien, 8.5.2002

Wie man sieht, unterscheidet Sereny hier zwischen Auschwitz und Birkenau. Das Lager Auschwitz I (Stammlager) war in erster Linie ein Konzentrationslager. Dort wurden Häftlinge selektiert und erschossen; nur in der Anfangszeit gab es dort auch eine Gaskammer, in der nach Jean-Claude Pressac bis zu 10000 Menschen ermordet wurden. Auschwitz II (Birkenau) wurde dann das große Vernichtungslager, in dem rund eine Million Menschen, "zumeist Juden und Zigeuner", wie Sereny sagt, in Gaskammern ermordet wurden. Auschwitz III (Monowitz) war wiederum ein Zwangsarbeiterlager, in dem es keine systematische Massenvernichtung gab.

Vor diesem Hintergrund ist die scheinbar so verstörende Aussage, Auschwitz - präziser wohl Auschwitz I - sei kein Vernichtungslager gewesen, in gewisser Weise nachvollziehbar. An der Tatsache, dass in Auschwitz-Birkenau ein Massenmord in Gaskammern stattfand, lässt Sereny jedenfalls nicht den geringsten Zweifel aufkommen. Auch in ihrem Buch Into That Darkness erwähnt sie Birkenau als "Vernichtungsabteilung von Auschwitz" (S. 70)[1].

Es mag ja sein, dass Sereny sich ungeschickt ausgedrückt, oder dass die Redakteurin der Times unordentlich gearbeitet hat. Unterstützung für die Geschichtsfälschungen der Holocaustleugner ist hier aber weit und breit nicht zu entdecken. Wie so oft haben sie auch hier ein - zugegebenermaßen - missverständliches Zitat aus dem Kontext gerissen und für ihre Zwecke genutzt.

Anmerkung:

  1. Deutsch: Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, Piper, überarbeitete Neuausgabe, 1995. Hier übersetzt nach der englischen Ausgabe.
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